Rathenow (Brandenburg)

Datei:Karte des Kurfürstentums Brandenburg 1725 1750.svgHavelland Karte    Rathenow – derzeit ca. 26.000 Einwohner zählend - ist eine Stadt an der Havel und Verwaltungssitz des Landkreises Havelland in Brandenburg – ca. 65 Kilometer westlich von Berlin gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte von Brandenburg um 1730/40, aus: wikipedia.org, gemeinfrei  und  Kartenskizze 'Kreis Havelland', aus: ortsdienst.de/brandenburg/havelland).

 

Bereits im 14.Jahrhundert sollen sich wenige Juden in der Ortschaft Rathenow angesiedelt haben. Zunächst zahlten sie Schutzgeld an die dortigen Markgrafen, später an den Magistrat der Stadt. Um 1510 mussten im Zuge der Vertreibungen aus Brandenburg vermutlich auch die jüdischen Familien aus Rathenow den Ort verlassen.

Rathenow um 1800 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)

Erst um 1690 sollen sich wieder zwei/drei jüdische Familien, vermutlich aus Wien, in Rathenow aufgehalten haben: es waren die Brüder Isaak, Jakob und Markus David, die einen gemeinsamen Schutzbrief für sich und ihre Familien erhalten hatten. Deren Ansiedlung – vom brandenburgischen Kurfürsten ausdrücklich genehmigt – stieß aber bei den einheimischen Händlern/Kaufleuten auf Ablehnung, da diese wirtschaftliche Konkurrenz fürchteten.

In den folgenden Jahrzehnten kamen weitere jüdische Bewohner hinzu; sie verdienten ihren Lebensunterhalt meist als Händler. Einer unter ihnen, der Schutzjude Levin Pintus, war Textillieferant der preußischen Armee; als wohlhabender Unternehmer ließ er Wohnungen für die bei ihm beschäftigten Spinner und Weber errichten.

Die Rathenower Juden bildeten im 19.Jahrhundert - zusammen mit den Juden aus Friesack und Rhinow - eine Synagogengemeinde; ab 1892 war deren Sitz offiziell in Rathenow (zuvor in Friesack). Ihr erster Betraum befand sich zunächst in einem Privathause in der Gasse „Tempelhof“; er wurde bis 1926 genutzt, dann erwarb die jüdische Gemeinde in der Fabrikenstraße, der heutigen Wilhelm-Külz-Straße, ein älteres Gebäude, das zu einer Synagoge umgebaut wurde. An ihrer Einweihung im Jahre 1926 nahmen die Honoratioren der Stadt Rathenow teil.

        

Rathenower Synagoge in der Fabrikenstraße - Außen- und Innenansicht (hist. Aufn., aus: rathenow-fks.org)

Ein Jahr später wurde auf die Synagoge ein Brandanschlag verübt - ohne allerdings größeren Schaden anzurichten; da weitere Anschläge befürchtet wurden, stand die Synagoge damals sogar unter Polizeibewachung.

Die erstmals 1699 urkundlich erwähnte Begräbnisstätte lag ursprünglich außerhalb der Stadt und musste nach 1900 wegen einer Stadterweiterung aufgegeben werden; 1905/1906 wurde in unmittelbarer Nähe der Siedlung Neufriedrichsdorf der neue jüdische Friedhof angelegt.

Juden in Rathenow:

         --- um 1700 ........................   2 jüdische Familien,

    --- um 1775 ........................   8   “         “    ,

    --- 1803 ...........................  13   “         “   (57 Pers.),

    --- 1812 ...........................  39 Juden,

    --- 1843 ...........................  35   “  (in 8 Familien),

    --- 1850 ...........................  22   “  (in 6 Familien),

    --- 1910 ...........................  42   “  ,

    --- 1925 ........................... 112   “  ,

    --- 1933 ........................... 110   “  ,

    --- 1941 (Dez.) ....................  29   “  ,

    --- 1943 (Dez.) ....................  keine.

Angaben aus: Irene Diekmann/Julius H.Schoeps (Hrg.), Wegweiser durch das jüdische Brandenburg, S. 220 f.

 

    Mittelstraße in Rathenow, hist. Postkarte (aus: wikipedia.org, CCO)

 

Zu Beginn der NS-Zeit lebten in Rathenow etwas mehr als 100 jüdische Bewohner, die mehrheitlich als Arbeiter und Angestellte in hiesigen Betrieben/Einrichtungen tätig waren; ca. 30% bestritten ihren Lebensunterhalt als Geschäftsleute/Unternehmer.

Bereits in den 1920er Jahren war es zu antijüdischen Gewalttätigkeiten in Rathenow gekommen; so war 1927 ein Brandanschlag auf die Synagoge verübt und 1930 der Rabbiner von einem SA-Angehörigen misshandelt worden.

Auch in Rathenow wurde am 1.4.1933 der Boykott gegen die jüdischen Geschäfte durchgeführt; diesem schlossen sich weitere Boykottmaßnahmen, verstärkt im Dezember 1935, an.

In den Morgenstunden des 10.November 1938 kam es auch in Rathenow zu offenem Terror; von einer Brandlegung des Synagogengebäudes sah man zwar ab - im Obergeschoss wohnte der nicht-jüdische Hausmeister; doch die Inneneinrichtung der Synagoge wurde demoliert: Thoraschrein und Thora-Rollen wurden zerstört, Bücher und Schriften verbrannt. Die meisten noch in der Stadt lebenden jüdischen Männer wurden festgenommen, Tage später nach Potsdam überführt und von dort ins KZ Sachsenhausen verschleppt.

Das Synagogengebäude samt -grundstück musste wenige Tage nach dem Pogrom an die Stadt abgegeben werden. Die Beurkundung des Verkaufs („Der Kaufpreis für dieses Grundstück einschließlich noch etwa vorhandenen und brauchbaren Inventars beträgt 500 Reichsmark“) soll im KZ Sachsenhausen erfolgt sein - dort, wo die männlichen jüdischen Gemeindemitglieder in „Schutzhaft“ festgehalten wurden (Anm.: Der Kaufvertrag vom 15.Nov.1938 trägt die Unterschriften von 27 Gemeindemitgliedern). Später wurde dann das Gebäude von der NSV als Kinderheim genutzt.

Bis 1939 waren alle jüdischen Geschäfte/Betriebe Rathenows aufgegeben bzw. „arisiert“ worden. (Anm. Bereits 1933 hatten die beiden Kaufleute Fritz und Siegbert Sinasohn ihren Besitz mitsamt dem Produktenhandel aufgeben müssen.)

Ab 1941 mussten die wenigen jüdischen Familien in drei „Judenhäusern“ (u.a. in der Steinstraße) leben; von da aus wurden sie 1942/1943 „in den Osten“ deportiert. 15 Rathenower Juden wurden Opfer der Shoa; nur zwei Holocaust-Überlebende kehrten nach Kriegsende in die Stadt zurück.

 

Nach 1945 geriet der jüdische Friedhof völlig in Vergessenheit. Das von Ziegelmauern umfriedete Gräberfeld an der Neufriedrichsdorfer Straße verwahrloste und wurde als Müllhalde benutzt. In den 1970er Jahren wurde dann erste Aufräumungsarbeiten vorgenommen, in deren Verlauf noch 13 Grabsteine aufgefunden wurden; sie wurden an einer Seite der Friedhofsmauer aufgereiht. Heute erinnert eine Inschriftentafel an die einstige Begräbnisstätte der Rathenower Juden:

Friedhof der ehemaligen jüdischen Gemeinde der Stadt Rathenow

Hinterbliebene wurden durch Faschisten umgebracht oder vertrieben

 

Jüdischer Friedhof Rathenow (Aufn. Z thomas, 2019, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0  und  H.-W. Knackmuß, 2014)

                                       Gedenkstein für die jüdischen Opfer (Aufn. aus: denkmalprojekt.org)

Nach umfangreichen kostenintensiven Restaurierungsarbeiten wurde 2019 der jüdische Friedhof in Neufriedrichsdorf wieder neu eingeweiht.

Eine Gedenktafel mit Davidstern ist am ehemaligen Synagogengebäude in der Dr. Wilhelm-Külz-Straße (früher: Fabrikenstraße), das heute als Schule für Lernbehinderte genutzt wird, angebracht.

                                                                                                       Synagoge

In den Räumen dieses Hauses befand sich seit 1926 die Synagoge der jüdischen Gemeinde Rathenow.

Sie wurde am 9.11.1938 zerstört.

 

Auf Initiative des Vereins "Memento" und des Kulturzentrums Rathenow wurden 2007 in der Steinstraße vor dem Sanitätshaus Wilma und der Altstadt-Apotheke sog. „Stolpersteine“ in Erinnerung an das Ehepaar Alfred und Franziska Kornblum und zwei weitere ehemalige jüdische Bewohnerinnen in die Gehwegpflasterung eingelassen.

 Stolpersteine Steinstr. 1 Rathenow.jpgStolperstein Steinstr. 40 Rathenow - Berta Kadden.jpgStolperstein Steinstr. 40 Rathenow - Emmy Sinasohn.jpg

Stolpersteine in der Steinstraße (Aufn. U. Rohwedder, 2011, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)

 

 

 

In der Nähe Rathenows befand sich ab 1934 das Haschara-Lager Steckelsdorf, in dem junge Juden auf ihre Auswanderung nach Palästina vorbereitet wurden; der Schwerpunkt in der Ausbildung lag auf dem Gebiet der Landwirtschaft und des Gartenbaus. Ab Herbst 1940 wurden sie zu Zwangsarbeiten herangezogen; neben landwirtschaftlichen Tätigkeiten waren sie im Straßenbau und in der Rüstungsindustrie eingesetzt. Ab 1941 lebten auch ältere Juden in Steckelsdorf, die sich hierhin geflüchtet hatten. Im Mai 1942 schlossen die NS-Behörden die Ausbildungsstätte;  fast alle Bewohner wurden von hier aus nach Auschwitz deportiert; nur einem einzigen soll die Flucht nach Palästina gelungen sein.

An der Dorfkirche Steckelsdorf befindet sich seit 1978 eine Gedenktafel mit der Aufschrift "Zum Gedenken: Juden im Landwerk Steckelsdorf".

 

 

Datei:Friesack in HVL.png In Friesack - derzeit ca. 2.500 Einw., ca. 30 Kilometer nordöstlich von Rathenow gelegen (Abb. 'Landkreis Havelland' mit Friesack rot markiert) - waren seit Anfang des 18.Jahrhunderts einige jüdische Familien ansässig; 1716 waren es drei „Schutzjuden“. Im Jahre 1871 gab es 24 Juden am Ort, die vom Handel lebten. Die offizielle Gründung einer Synagogengemeinde in Friesack war Mitte der 1850er Jahre erfolgt. Gottesdienste wurden seit 1838 in einem eigenen Betraum abgehalten; zuvor waren private Räumlichkeiten genutzt worden. Auch ein kleines Begräbnisareal an der Klessener Straße, am westlichen Stadtrand, war vorhanden; vermutlich erfolgte dessen Anlage bereits im ausgehenden 18.Jahrhundert; die letzte Beerdigung fand 1919 statt.

Mit aufkommender Industrialisierung verlor Friesack als ländliche Kleinstadt seine regionale wirtschaftliche Bedeutung; damit einher ging auch der stete Verfall der jüdischen Gemeinde. Als die Zahl der Gemeindemitglieder nur noch sehr gering war, kam es 1892 zu einer Zusammenlegung der jüdischen Gemeinden Friesack und Rathenow. Zu Beginn des 20.Jahrhundert lebten dann nur noch vereinzelte jüdische Familien in Friesack. Mit Beginn der NS-Zeit verließen die letzten jüdischen Bewohner Friesack.

Der stark verwahrloste Friedhof - er befindet sich am westlichen Stadtrand an der Klessener Straße - wurde Ende der 1980er Jahre wieder in einen ansehenswerten Zustand gebracht. Auf dem Areal findet man heute noch 17 Grabsteine; der älteste noch lesbare Stein stammt aus dem Jahre 1829.

Jüdischer Friedhof (Aufn. Daniel Rohde-Kage, 2012, in: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)

                       Friesack - Grabstein Jüdischer Friedhof - Gravestone Jewish Cemetery 23.JPGFriesack - Grabstein Jüdischer Friedhof - Gravestone Jewish Cemetery 20.JPGFriesack - Grabstein Jüdischer Friedhof - Gravestone Jewish Cemetery 24.JPGeinzelne Grabsteine

An die mehr als 250 Jahre währende jüdische Geschichte Friesacks erinnert heute noch der „Judengang“, ein schmaler Weg in der Stadtmitte, an dem sich die ehemalige Synagoge befand.

 

 

 

Weitere Informationen:

Hermann Günther, Bilder aus Alt - Rathenow, Rathenow 1934, S. 30 f.

Rudolph Gutjahr, Aus der Geschichte der Rathenower Juden (Maschinenmanuskript), 1958

Helmut Eschwege, Geschichte der Juden im Territorium der ehemaligen DDR, Dresden 1990, Band I, S. 246 f.

Bettina Götze/Fritz Mewes/u.a., Zur Geschichte der Juden in Rathenow. Nicht verdrängen, sich erinnern hilft weiter, Hrg. Kreismuseum Rathenow, Berlin 1992

M.Brocke/E.Ruthenberg/K.U.Schulenburg, Stein und Name. Die jüdischen Friedhöfe in Ostdeutschland (Neue Bundesländer/DDR und Berlin), in: "Veröffentlichungen aus dem Institut Kirche und Judentum", Hrg. Peter v.d.Osten-Sacken, Band 22, Berlin 1994, S. 349 f. und S. 570 - 572

Bettina Götze, Rathenow, in: Irene Diekmann/Julius H.Schoeps (Hrg.), Wegweiser durch das jüdische Brandenburg, Edition Hentrich, Berlin 1995, S. 220 - 232

Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus - Eine Dokumentation II, Hrg. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1999, S. 339 – 441

Meta Kohnke, Geschichte der jüdischen Gemeinde in Rathenow bis zum Erlaß des Emanzipationsediktes 1812, in: E.Henning/W.Neugebauer (Hrg.), Jahrbuch für Brandenburgische Landesgeschichte, 52/2001

Stadtplan gegen das Vergessen. Auf den Spuren jüdischer Vergangenheit in Rathenow“, hrsg. von einer Projektgruppe der Gesamtschule „Bruno-H.-Bürgel“ Rathenow, 2001

Wolfgang Weißleder, Der Gute Ort - Jüdische Friedhöfe im Land Brandenburg, Hrg. Verein zur Förderung antimilitaristischer Traditionen in der Stadt Potsdam e.V., Potsdam 2002, S. 75

Jude nutzte in der NAZI-Zeit das letzte Schlupfloch zur Flucht (Egon Kornblum berichtet von der Verfolgung), in: "WAZ - Westdeutsche Allgemeine Zeitung" vom 9.2.2002

Auskünfte des Stadtarchivs der Stadt Friesack

Projektgruppe der Gesamtschule „Bruno Hans Bürgel“ (Bearb.), Die Geschichte der Juden in Rathenow (Internetpräsentation), Rathenow o.J.

Bettina Götze, Rathenow, in: Irene A. Diekmann (Hrg.), Jüdisches Brandenburg. Geschichte und Gegenwart, Beiträge zur Geschichte und Kultur der Juden in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen, Band 5, Berlin 2008, S. 304 – 328

Heinz-Walter Knackmuß, Geschichte der Juden in Rathenow (online abrufbar unter: rathenow-fks.org)

Stadt Rathenow (Hrg.), Kunstprojekt Stolpersteine - Dieses Kunstprojekt erinnert an jüdische Mitbürger Rathenows, online abrufbar unter: rathenow.de/Kunstprojekt-Stolpersteine

Irene A. Diekmann/Bettina L. Götze, Vom Schutzjuden Levin zum Staatsbürger Lesser. Das preußische Emanzipationsedikt von 1812, Berlin/Potsdam 2012

Dieter Seeger/Frank Hübner/Jakob Krüger, Nazizeit in Rathenow. Aufstieg und Untergang eines Verbrechersystems, online abrufbar unter: bukiinwonderland.com/rathenow/ (unter „1938“ Informationen zur jüdischen Geschichte Rathenows)

Dieter Seeger, Aus Erinnerung muss Verantwortung erwachsen. Wie den Rathenower Juden ihr Eigentum geraubt wurden (Aufsatz)

Rolf Blase (Bearb.), Geschichte der jüdischen Gemeinde in Rathenow und ihres Friedhofs, in: Universität Potsdam - Institut für jüdische Studien und Religionswissenschaft (Hrg.), Jüdische Friedhöfe in Brandenburg, online abrufbar unter: uni-potsdam.de

Nicole Schmitz (Bearb.), Geschichte der jüdischen Gemeinde in Friesack und ihres Friedhofs, in: Universität Potsdam - Institut für jüdische Studien und Religionswissenschaft (Hrg.), Jüdische Friedhöfe in Brandenburg, online abrufbar unter: uni-potsdam.de

Sandra Euent (Red.), Deportiert und gestorben, in: „MOZ – Märkische Oder-Zeitung“ vom 24.2.2016

Markus Kniebeler (Red.), Rathenow. Finanzspritze für den jüdischen Friedhof, in: „Märkische Allgemeine“ vom 3.1.2019

Markus Kniebeler (Red.), Jüdischer Friedhof nach Sanierung eingeweiht, in: „Märkische Allgemeine“ vom 27.10.2019

Joachim Wilisch (Red.), Erinnerung an ein Verbrechen ohne Beispiel, in: „Märkische Allgemeine“ vom 10.11.2019

N.N. (Red.), Erinnerung an jüdisches Leben in Rathenow, aus: „Märkische Allgemeine“ vom 9.11.2020